AMAH THU - Das Herz der Materie

Rede anläßlich der Ausstellung von Stefan Laug im Ausstellungsraum der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart am 04.11. 1991.

Professor Sotirios Michou
Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart



Meine verehrten Zuhörer!

Ein geistiger, das heißt ein bedeutender Gegenstand, ist eben dadurch "bedeutend", daß er über sich hinausweist, daß er Ausdruck und Exponent eines Geistig-Allgemeinen ist, einer ganzen Gefühls- und Gesinnungswelt, welche in ihm, dem Gegenstand, ihr mehr oder weniger vollkommenes Sinnbild gefunden hat, wonach sich dann der Grad seiner Bedeutung bemißt.

- Zitat aus Zauberberg von Thomas Mann -

Ein anderes Zitat und zwar aus dem Mittelalter:

Das Bild als Sinnbild:

Warum wird Sinnbildkunst - so mag jeder fragen, noch heute über andere Kunst mit Lob empor getragen? Ich sag's - der Geist spielt dort in sonderbaren Runden, so sinnreich, wie ich's nirgends sonst gefunden.


AMAH THU - Das Herz der Materie.

Eine Einführung in die Arbeit von Stefan Laug muß selbstverständlich mit einigen Grundthesen seiner Philosophie beginnen, die ich folgendermaßen formuliere:

Der Mensch ist entstanden und lebt seitdem in und mit Urklängen und Urbildern.

Der Mensch ist entstanden mit und durch Archetypen.

Solche Urklänge, Urbilder, Archetypen sind mit an der Entstehung der Welt beteiligt und an der Entstehung des Menschen, wie soeben erwähnt. Sie sind alle für uns mehr oder weniger präsent, tauchen aber in der Regel in seelisch bewegten Zeiten wieder auf.

Im Spannungsfeld zwischen dem ewigen Wandel aller Erscheinungen einerseits und den unwandelbaren Archetypen andererseits bildet sich die geschichtliche Entwicklung. In dieser geschichtlichen Entwicklung werden die vorhin genannten Polaritäten, also der ewige Wandel aller Erscheinungen und die unwandelbaren Archetypen miteinander zur Form verschmolzen. Diese Form hat vielfach die Widerspiegelung der ewigen Konstanten zu ihrem Inhalt gemacht.

Geschichte, Wissenschaft und Kunst, aber auch Musik, Tanz und Sprache, und auch Malerei, Skulptur, Architektur werden vom Menschen zu einer Umwelt gestaltet, ganzheitlich zu einer Einheit. Ganzheitlich bezeichne ich die Vorgehensweise und Einheit das Ergebnis.

Diese entstandene Einheit weist den Weg in Richtung Urland, wo die Einheit der Natur in ihrem noch nicht gespaltenen Wesen existierte. Dort, in diesem Urland, lebte der Mensch als Archetyp mit Archetypen vereint in der Gestalt von beseelter Materieorganisation und geschaffen auf der Grundlage des Gesetzes vom goldenen Schnitt.

AMAH THU - der Titel dieser Ausstellung ist AMAH, ein Wort aus vier Buchstaben und bedeutet nach oben oder sich aufrichtend.

THU - ein Wort aus drei Buchstaben bestehend, signalisiert hingegen den Horizont, den man bekanntlich erst sieht, wenn man sich aufgerichtet hat.

AMAH THU - in zwingend richtiger Folge mit 4 + 3 = 7 Buchstaben wie die sieben Planeten beim Mythos der Erschaffung der Welt. 4 ist das Quadrat und die vier Himmelsrichtungen und der Gang des Lichtes, der Sonne und 3 das Rotationsprinzip, der Kreis.

Hier möchte ich einen wunderbaren Dreizeiler von Piero Paolo Pasolini zitieren:

Sie gehört uns wieder. Wer?
Die Ewigkeit,
die Sonne, die mit dem Wasser ewig kreist.

In den meisten Religionen der Welt, die früher auch das Wissen der Zeit - die Wissenschaft - pflegten, hüteten und weitergaben, war die Zahl 7 von grundlegender Bedeutung:

Die Zahl 7 ist auch 5 + 2. 5 für den goldenen Schnitt und das Pentagramm, die Hand und 2 für die Dualität, also den Anfang aller Dinge.

Im Zentrum dieser Ausstellung ruht ein leicht gewölbtes, ovales Objekt aus Lindenholz, blattvergoldet. Seine Abmessungen, Länge und Breite, entsprechen denen des goldenen Schnitts.

Das Herz der Materie, der zweite Titel dieser Ausstellung, das Herz der Materie mit seinen zwei Zentren der Ellipse entspricht der Dualität. Die Dualität bedeutet die duale Urmutter Materie - Hell zum Dunkel, Leben zum Tod, Weiß oder Gold zum Schwarz.

Der folgende Satz des Kaisers von China konvergiert in diesem Objekt:

"In der Mitte aller Dinge wohne ich, der Sohn des Himmels. Meine Frauen, meine Bäume, meine Tiere, meine Teiche schließt die erste Mauer ein."

Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges sind durch dieses Objekt an einem Ort vereint, in welchem Leben vibriert und Zeit nicht gemessen wird. Rechteck und Ellipse bilden den originären Handlungsort, wo Mikro- und Makrokosmos zu Einem werden.

Die Arbeiten von Stefan Laug sind gebaut aus einer Vielzahl von Begriffen und Zeichen und deren Entsprechungen in Objekten, Sprache, Klängen, Farben und Bewegungen. Sie evozieren das Urland, wo der Mensch als Archetyp mit dem Archetypen vereint lebte.

Die Inhalte dieser Arbeiten werden anhand von Malerei, Zeichnungen, Objekten, Installationen und Klängen in der Form der Initiation-Performance vermittelt.

Scheint so, daß "Urbild und Wandel" im Gegenwartskonzept zu einer spezifischen Zeitkonstante, konvergierenden Charakters streben. Diese Zeitkonstante ermöglicht, daß wir am vibrierenden Ort der Harmonie begegnen. Die Griechen erkannten diese Vibration als Bewegung der Materie, als bewegte Struktur.

Musik, Tanz, Sprache, Skulptur, Architektur und Wissenschaft in der Form einer vom Menschen gestaltet-geschaffenen Umwelt sind entstanden.

Meine verehrten Zuhörer, die für diese Ausstellung verwendeten Materialien unterliegen bei ihrer Verarbeitung nicht irgendeiner willkürlicher Verarbeitungsprozedur, sondern sind das genau kalkulierte Ergebnis eines Vergeistigungsprozesses oder Erkenntnisprozesses, wenn Sie es so wollen.

Die weiße Farbe ist Geist und Nahrung - hier Mehl -, die anderen Farben sind Erden, von Herrn Laug selbst an verschiedenen Orten Europas gesammelt. Das Holz ist gewachsen - stellt die wachsende Natur dar. Das Gold, als edelstes der ganzen Familie der Metalle, vereint Licht und Ewigkeit und ist stellvertretend für das goldene Zeitalter.

Daher stellen die Arbeiten dieser Ausstellung die Begegnung von Licht und Materie in möglichst einfacher Form dar, als Lichtepiphanie und Lichtdiaphanie.

Diese Ausstellung, wie alle vorangegangenen Ausstellungen von Herrn Laug, hat ikonografischen Charakter. Sie steht außerhalb von Kunstströmungen der Zeit und nimmt somit einen besonderen Platz im Diskurs "Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit" ein.

Für diejenigen, die mir bis hierher zugehört haben, möchte ich zum Schluß eine Meditationsübung aus dem ZEN auf den Weg geben, also einen KOAN:

Wenn du auslöscht Sinn und Ton, was hörst du dann?



Ich danke Ihnen.

Amah Thu
AMAH THU - Das Herz Der Materie